1: Ist das nicht seltsam, was ich da gerade denke? Warum wir vor jeder Reaktion innehalten  sollten.

Vor Kurzem wurde unsere Terrasse erneuert. Der Lärm war ohrenbetäubend, und die Arbeiten zogen sich mit Unterbrechungen über einen Zeitraum von mehreren Wochen, zum Teil bis in die Abendstunden. (Erst) kurz vor der Fertigstellung beschwerte sich eines Abends gegen 20 Uhr ein Nachbar und bat darum, die Arbeiten sofort zu stoppen, da seine Kinder schlafen müssten. Ich war selbst genervt von den endlosen Bauarbeiten und dem Krach und reagierte impulsiv abweisend auf die Bitte des Nachbarn. Kaum fünf Minuten später schämte ich mich für meine Reaktion.

Im kurzen Moment meiner Unbeherrschtheit war ich ein reiner Reiz-Reaktions-Organismus gewesen.

Der Behaviorismus in seiner extremen Form gilt als widerlegt - wir Menschen sind keine bloßen Reiz-Reaktions-Maschinen, sondern besitzen kognitive Fähigkeiten, die uns helfen, den unmittelbaren Reiz-Reaktions-Mechanismus  zu entschärfen. Wir können einordnen, nachdenken und empathisch sein. Wir können (in einem gewissen Rahmen) frei entscheiden, wie wir uns verhalten werden.

Leider nutzen wir diese kognitiven Fähigkeiten oft nicht. Wir verpassen die Gelegenheit, die andere Person zu verstehen, zu reflektieren, warum ein Reiz diese spontane Reaktion in uns auslöst, und was eine angemessene Antwort sein könnte. Die spontane, nicht reflektierte Reaktion auf einen Reiz passiert so viel schneller als jedes Nachdenken sein kann.

Was können wir also tun, wenn das Denken langsamer als das automatische Reagieren ist? Die einfache Antwort ist: Wir tun nichts. Fast nichts. Wir halten inne und nehmen die sich entwickelnde, spontane Reaktion wahr. Wir können diesem Prozesse auf die Sprünge helfen durch Fragen wie z.B. „Das ist interessant.“, „Das ist ja seltsam, was da in mir passiert.“, „Ach so ist das.“

Meist reicht dies, und die automatische Reaktion entfaltet sich nicht. Dies gibt uns dann den Raum zu schauen, was eine angemessene Reaktion sein könnte, eine Antwort, die sich gut und gesund anfühlt. Wir können diese Antwort nicht herbeidenken, sie erscheint (wie alle Gedanken im Grunde erscheinen und nicht erdacht werden). Durch Übung und Achtsamkeit können wir uns jedoch in die Lage versetzen, diese alternative, angemessenere Reaktion leichter zu sehen, zu erkennen. Dazu mehr in einem anderen Beitrag.

Das nächste Mal, wenn ein Kollege, Freund oder Fremder etwas sagt oder tut, halte inne. Spüre in dich hinein, was du denkst und fühlst. Lass die angemessene Reaktion erscheinen. Was auch immer es ist, es wird oft besser sein als die erste impulsive Reaktion.

Viktor Frankl drückt dies kürzer und eleganter aus:

„Zwischen Reiz und Reaktion liegt ein Raum. In diesem Raum liegt unsere Macht zur Wahl unserer Reaktion. In unserer Reaktion liegen unsere Entwicklung und unsere Freiheit.“

2: Wütend sein ist unangenehm - warum werden wir trotzdem wütend?

Schaut man in das Gesicht eines wütenden Menschen, und sei es im Spiegel, wenn man selbst wütend ist, so sieht man ein Gesicht, das Unbehagen oder sogar Schmerz ausdrückt. Trotzdem werden wir wütend, weil die Wut ein Gefühl der momentanen Erleichterung verschafft. Dabei versteckt oder überdeckt die Wut jedoch eine andere, tiefere Emotion. So kann ich wütend sein, weil ein Freund eine Verabredung vergessen hat - das eigentliche Gefühl ist jedoch vielleicht Enttäuschung, Unsicherheit oder ein Gefühl der Zurückgewiesenheit. Oder ich bin wütend, weil ein Kollege statt mir befördert wurde. Hier kann ein Gefühl des Neids, der mangelnden Anerkennung oder auch der Angst vor einem Ende des Karriereaufstiegs dahinterstehen.
 
Nun ist es leider nicht so, dass das Verdecken dieser Emotion durch Wut in irgendeiner Weise hilfreich ist, denn diese verdeckte Emotion schwelt weiter vor sich hin. Bleiben wir bei dem Beispiel der vergessenen Verabredung: Ist das verdeckte Gefühl Unsicherheit, weil ich Sorge habe, dass mein Freund sich von mir distanziert, so verschwindet dieses Gefühl der Unsicherheit nicht, weil ich wütend bin - ich habe dieses Gefühl ja gar nicht wahrgenommen. Deshalb ist es wichtig, (nachdem die Wut verflogen ist), zu verstehen, was die eigentliche Emotion hinter der Wut ist und diese zu adressieren. So kann ich den Freund zum Beispiel fragen, wie wichtig ihm die Freundschaft noch ist. Ist sie ihm noch wichtig, so kann ich die nächste vergessene Verabredung nehmen als das was sie ist: eine vergessene Verabredung, ohne böse Absicht, als etwas, das uns allen mal passiert.
 
Oder nehmen wir das Beispiel der Beförderung des Kollegen: Ist es das Gefühl der mangelnden Anerkennung, das dahintersteckt, so kann ich schauen, ob dieses Gefühl berechtigt ist. Und warum ich die Anerkennung überhaupt brauche. Ist es die Sorge vor dem Ende der Karriereleiter, so kann ich erarbeiten, was fehlt, um den nächsten Schritt doch zu machen.
 
Nichts von dem geschieht jedoch von selbst. Am besten beginnt man gelassen und heiter mit der Suche nach der Emotion hinter der Emotion.